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Co-Abhängigkeit

Sind Angehörige von psychisch erkrankten Menschen co-abhängig?

Der Begriff „Co-Abhängigkeit“ wird normalerweise im Zusammenhang mit Suchterkrankungen verwendet. Er bedeutet, dass eine Person in die Erkrankung eines nahestehenden Menschen verstrickt ist. Sie entwickelt Strategien im Umgang mit der Erkrankung, welche durch ihr Tun oder Unterlassen die Erkrankung zusätzlich fördern und damit dem betroffenen Menschen, aber letztlich auch ihr selbst schaden. Einfaches Beispiel: die Frau eines Alkoholabhängigen kauft jeden Freitag eine Kiste Bier und eine Flasche Schnaps, damit der Mann übers Wochenende genügend zu trinken hat, Ruhe gibt und nicht aggressiv wird.

Aber auch Angehörige von psychisch erkrankten Menschen drohen, auf vielfältige Weise co-abhängig zu werden. Das Miterleben einer psychischen Störung kann bekanntlich für Angehörige außerordentlich belastend sein.  Am Anfang sind die Angehörigen genervt vom Verhalten der erkrankten Person. Sie versuchen, Erklärungen für ihr verändertes Verhalten zu finden, schirmen zur Vermeidung von Stigmatisierung die Familie nach außen ab und übernehmen zunehmend Verantwortung für den erkrankten Menschen. Sie versuchen, Psychotherapeuten, Krankenpfleger und Sozialarbeiter in einem zu sein. Ein übertriebener Grad der Umsorgung der erkrankten Person durch die Angehörigen kann jedoch zu einem Gefangensein im Netz des erkrankten Menschen führen. Der/die Angehörige unterstützt dann womöglich den erkrankten Menschen bis zur eigenen Selbstaufgabe. Das ganze Leben wird der Erkrankung und dem erkrankten Menschen untergeordnet. Dazu kommt ein zunehmender Kontrollzwang, um den betroffenen Menschen ständig daraufhin zu überwachen, dass er nichts Unbotmäßiges anstellt und die Anweisungen der behandelnden Ärzte und Therapeuten befolgt, also z. B. seine Medikamente regelmäßig einnimmt, was wiederum dem betroffenen Menschen auf die Nerven geht und zu einer unheilvollen Spirale gegenseitiger Vorwürfe und Schuldzuweisungen führen kann.

Die eigene Lebensqualität der Angehörigen, welche durch den engen Kontakt mit dem psychisch erkrankten Menschen ohnehin leidet, wird durch diese (teilweise selbst aufgezwungene) Abhängigkeit zusätzlich verschlechtert, die eigenen Bedürfnisse werden vernachlässigt. Typisches Beispiel ist die Mutter, welche der erkrankten Tochter jegliche, auch zumutbare, einfache Tätigkeit abnimmt und damit zum einen ständig sich selbst überfordert, zum andern aber dadurch auch dafür sorgt, dass ihre Tochter nie erwachsen und selbständig werden kann. Es gibt sie also durchaus, die co-abhängigen Angehörigen (solche gibt es selbstverständlich auch in Beziehungen zu somatisch erkrankten oder dementen Menschen).

Derartige Verhaltensweisen können auch dazu führen, dass Angehörige von psychisch erkrankten Menschen zunehmend von Letzteren manipuliert werden: es ist ein (an sich menschlich verständliches) Verhalten, dass die Erkrankten versuchen, den einmal erreichten „Besitzstand“ und die damit verbundene Bequemlichkeit zu wahren und die Verhältnisse zu ihrem Vorteil auszunutzen, was wiederum die psychische und physische Belastung der Angehörigen erhöht. Böse Zungen sagen dann: „Der spinnt zu seinem Vorteil!“ Das rechtzeitige Setzen von Grenzen und eine vernünftige Absprache über gegenseitige Rechte und Pflichten ist daher sinnvoll und notwendig.

Angeblich „übertriebenes Kümmern“ oder „Klammern“ der Angehörigen wird auch oft als Überfürsorglichkeit oder sogar als „Helfersyndrom“ ausgelegt. Die Definition von Co-Abhängigkeit als „Helfersyndrom“ erscheint jedoch nicht gerechtfertigt. Die Gründe sind nämlich unterschiedlich: während ein vom Helfersyndrom Betroffener versucht, mit der Fixierung auf seine Helferrolle sein schwaches Selbstwertgefühl zu bekämpfen, wird den Angehörigen die Co-Abhängigkeit aufgrund der Erkrankung des betroffenen Menschen quasi von außen, gegen ihren eigentlichen Willen, aufgedrängt, was mit mangelndem Selbstwertgefühl wenig zu tun hat. Zudem wird übersehen, dass die Angehörigen in aller Regel eine emotionale Bindung zu dem erkrankten Menschen haben, weshalb sie zunächst ganz selbstverständlich eigene Bedürfnisse zurückstellen und alles Mögliche versuchen, damit es Letzterem wieder besser geht. Dieses Verhalten ist ganz normal und zeichnet uns ja schließlich als mitfühlende Menschen aus. Es wird zudem sogar gesellschaftlich von uns erwartet, die Forderung wird auch religiös (Nächstenliebe) und ethisch (Kant: kategorischer Imperativ) begründet und ist in Form gewisser Pflichten (z. B. Unterhaltspflicht) auch gesetzlich festgeschrieben.

Betroffene und Angehörige sind immer in irgendeiner Weise gegenseitig voneinander abhängig. Schließlich haben sich z. B. Ehepartner bei der kirchlichen Trauung ja einmal versprochen, „in guten wie in schlechten Zeiten“ füreinander da zu sein, und Eltern sehen es zu Recht als ihre Pflicht an, sich um ihre Kinder zu kümmern. Ob und inwieweit eine solche Abhängigkeit in eine Co-Abhängigkeit ausarten kann, ist individuell sehr unterschiedlich. Vermutlich sind jedoch die meisten Angehörigen erkrankter Menschen in irgendeiner Weise (oder waren zumindest vorübergehend einmal) „co-abhängig“. Das beginnt mit der liebevollen Versorgung eines wehleidigen erkälteten Ehemanns und endet mit der erforderlichen Rundumversorgung einer dauerhaft erkrankten Person.

Der negativ besetzte Begriff „Co-Abhängigkeit“ kann schnell zu Schuldzuweisungen an die Angehörigen führen. Er sollte daher auf engagierte und belastete Angehörige von psychisch erkrankten Menschen nicht leichtfertig angewendet werden, da er vorschnelle Trennungsempfehlungen nahelegt und die Angehörigen zusätzlich verunsichert und belastet. Auch werden die vielen Fähigkeiten, Stärken und Bewältigungsstrategien, welche die Angehörigen aufbringen und einzusetzen versuchen, durch diesen Begriff nicht angemessen gewürdigt.

2/2023, Karl Heinz Möhrmann, Referat Angehörige

 

 

 

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Zum 30.03.24, der Internationale Tag der Bipolaren Störungen (World Bipolar Day) finden Sie hier die Pressemitteilung der DGBS.

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