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Lass uns über Scham reden …

Warum schreibe ich als bipolar betroffene Ärztin über Scham? Ist Scham (noch) ein Thema für uns Betroffene? Ist es vielleicht nur mein Thema? Wurde ich früh auf anhaltende Schamgefühle konditioniert im Sinne einer existenziellen Scham? Schäme ich mich, dass ich so bin wie ich bin? Kommt dann die Beschämung durch andere Menschen bei einer chronischen psychischen Krankheit hinzu?

Ich habe aus diesen Überlegungen heraus die Mitglieder unserer Gruppe „Selbst betroffene Profis“ gebeten, mit mir über Scham, Bipolare Krankheit (auch in Bezug auf unseren Beruf) zu diskutieren. Ihre Erfahrungen fließen in den Text mit ein.

Scham und Stigmatisierung?

Schämen wir uns trotz unseres beruflichen Wissens und Könnens manchmal im Familien- und Freundeskreis oder im Berufsleben? Haben wir nicht immer unseren Patienten gesagt, sie sollen sich nicht schämen für ihre körperliche oder seelische Erkrankung?

Schämen wir uns trotz unseres Fachwissens dennoch? Schämen wir uns, weil wir auch in der Psychotherapie/Lehrpsychotherapie die Schamgefühle über unsere Krankheit nie ganz verloren haben? Weil wir immer noch Stigmatisierung in der beruflichen Ausbildung oder im beruflichen Umfeld befürchten müssen, wenn wir uns „outen“? Weil wir bedingt durch unsere berufliche Sozialisation an einem unrealistischen Lebens- und Berufsbild festhalten? Ein Bild, in dem schmerzhaft der gut ausgebildete Helfer oder die Helferin mit der eigenen Krankheit/Schwäche/Hilflosigkeit kollidiert, verbunden mit tiefen Ohnmachtsgefühlen?

Outen in der Gruppe kann Schamgefühle verändern

Wir haben schon einiges an Schamgefühlen überwunden, wenn wir als bipolar betroffene Gesundheitsarbeiter/-innen hier oder bei der DGBS Tagung teilnehmen. Wir zeigen uns öffentlich, teils namentlich und werden für unsere Umwelt sichtbar.

Wir sollten uns fragen: Schämen wir uns weniger, wenn wir alleine sind? Oder schämen wir uns, wenn andere uns sehen? Beschämen andere Menschen uns, weil wir an einer Bipolaren Störung leiden und trotz unseres Wissens erkranken? Schämen wir uns in realen Situationen oder „nur“ in unserer Vorstellung?

An dieser Stelle denke ich an das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Andersen: Solange sich gesellschaftlich alle einig sind, dass der Kaiser vor ihnen nicht nackt ist, dann ist er auch nicht nackt. Dann trägt er nicht nur akzeptable, sondern sogar ausgesprochen kostbare und schöne Kleider in den Augen der Umwelt.
Da wir uns in der Gruppe sozusagen in „kollektiver Nacktheit“ bewegen, können wir uns relativ schamlos erzählen, was wir z.B. in einer Manie getan oder gesagt haben. Schon im Mitteilen dieser „Schamgeschichten“ zeigt es sich, dass sie in erster Linie zur Krankengeschichte und weniger zu uns als Person gehören. Ein Gruppenerlebnis, das Mut und Kraft gibt.

Ist das Löschen von Schamgefühlen möglich?

Leider können überwundene Schamgefühlen heftig zurückkehren (z.B. nach Krankheitsphasen): Wer hat mich gesehen in dieser überaus peinlichen Situation? Meine Partnerin/mein Partner? Meine Kinder? Meine Freunde? Meine Arbeitskollegen? Mein Chef? Meine Patienten? Scham ist ein angeborener starker Affekt (vergleichbar in seiner Intensität mit z.B. Wut). Scham rangiert auf der ähnlich ungeliebten Gefühlsstufe wie Schuld, Eifersucht, Neid oder Ekel, dient aber auch unserem Überleben in einer Sozialisation. Scham ist somit so alt wie die Menschheit und z.B. auch Tiere können Scham empfinden.

Je nach Sozialisation kann dieses Grundgefühl im Verlauf eines Lebens/einer Krankheit vermindert, verstärkt oder relativiert werden. Die gute Nachricht dabei: Schamgefühle sind veränderbar. Die nicht so gute lautet: Ein Löschen ist z.B. in der Psychotherapie nur teilweise möglich, denn der schützende Aspekt von Scham soll eben nicht verlorengehen: Was ist so persönlich/ intim, dass ich es nicht öffentlich preisgeben möchte? Scham bewahrt mich auch vor Bloßstellung...

Folgenschwere Entwicklungen

Im Extremfall, wenn wir uns anderen Menschen nicht mitteilen können, kann uns unser Schamempfinden zum anhaltenden Schweigen, in eine gesellschaftliche Isolation oder in soziale Phobien treiben. Scham kann chronisch in uns wüten. Schlimmstenfalls kam Scham Menschen in eine Sucht oder in den Suizid treiben, nur um endlich das bohrende, quälende Gefühl in uns zum Schweigen zu bringen.

Stichwort Tiefenpsychologie und Verhaltenstherapie

Ohne Identifikation dieses Zustandes und der Reflexion von Scham können Behandlungen erschwert oder komplett verhindert werden. Mit einem akzeptierenden Gegenüber kann Scham benannt und relativiert werden.

In einer tiefenpsychologischen Psychotherapie, in der Begegnung mit einem wohlwollenden, akzeptierenden Gegenüber, kann ein oft unbenennbares, tiefsitzendes Unbehagen korrigiert und aufgearbeitet werden. Das Beziehungsangebot geht über die Botschaft: "Du brauchst dich nicht zu schämen (für deine Erkrankung)" hinaus: "Ich akzeptiere und mag dich so, wie du bist, auch mit deiner Scham und halte dich und sie zusammen mit dir aus."

Versperrter Zugang zur Selbsthilfegruppe?

Der Zugang zu anderen Menschen kann ohne Relativierung von Schamgefühlen zeitweise oder dauerhaft versperrt sein. Wir erleben es manchmal bei potentiellen Gruppenmitgliedern, die sich aus Angst-/Schamgefühlen heraus oder aus Sorge vor beruflicher Stigmatisierung nach den ersten ermutigenden Schritten wieder ins Schneckenhaus zurückziehen und den Kontakt zu uns abbrechen. Müssen wir uns vor dem (Berufs)Bild „Halbgott/Halbgöttin in Weiß“ wirklich noch verbeugen? Können wir lernen, Hilfe anzunehmen statt grandios, stark, allzeit hilfsbereit und mit einem Ratschlag für andere in unserer Rolle zu verharren?

Was hat Jean Paul Sartre mit Scham zu tun?

Sartre schrieb, dass in der Scham die Anerkennung der Tatsache liege, dass ich so bin, wie der andere mich sieht.
Wir sehen uns gegenseitig in unserer Gruppe „Selbst betroffene Profis“. Es entlastet ungemein, dass sich z.B. Kolleg*innen in Krankheitsphasen auch gesellschaftlich/ beruflich „daneben benommen“ haben. In der Gruppe bin ich geschützt. Ich bin hier nicht die, die ich vielleicht sein sollte. Ich bin hier nicht der kranke Ärztin oder Psychotherapeutin. Hier werde ich nicht gemessen an bereits unwiederbringlich verlorenen idealen beruflichen Maßstäben. Ich vergleiche mich nicht mit „seelisch Gesunden“ oder gar „seelisch gesunden Gesundheitsarbeiter*innen“. Es darf einfach sein: Ich bin Ärztin und seelisch erkrankt. Meine Scham kann mich endlich verlassen. Vielleicht zum ersten Mal tiefgreifender in meiner langjährigen Krankheitsgeschichte: Sie verlässt mich auf meinen Wunsch hin dauerhaft und auch zunehmend außerhalb der Gruppe.

Die Tugend des Schamgefühls!

Wenn mahnende, zeigende, erdachte oder reale Finger von Bekannten, Familie, Freund*innen, Behandler*innen, Kolleg*innen endlich verschwinden...kann ich mich dann endlich dem Tugendbegriff von Aristoteles nähern?

Aristoteles beschrieb Scham als Tugend des Feingefühls.Herrscht diese Tugend des Feingefühls in unserer Umwelt vor? Wird Scham im positiven Sinne als menschliche Erkenntnisquelle genutzt?

Ich nehme sehenden Auges genügend Dinge in dieser Welt wahr, für die sich Menschen unendlich schämen sollten: Krieg, Hunger, Terror, Vertreibung, Ausbeutung, Umweltzerstörung. Schämen sich Menschen dafür? Nein.

Wo wir uns nicht schämen sollten,
da schämen wir uns,
und wo wir uns schämen sollten,
da schämen wir uns nicht.

(Demophilos)

Aufruf zum trialogischen Dialog mit uns „Selbst betroffenen Profis“

Scham über unsere bipolare Erkrankung zu überwinden ist ein historischer, gesellschaftspolitischer, gruppendynamischer und individueller Prozess. Ich persönlich habe beschlossen, dass deren Überwindung ein sehr wichtiges und aufschlussreiches Thema ist. Ich will den Deckel über der schamhaften Verschwiegenheit anheben, der gesellschaftlich nicht nur bei der bipolaren Erkrankung, sondern bei den meisten psychischen Erkrankungen (noch) sichtbar und erlebbar ist. Aus meiner Sicht blockiert oder verhindert dieser „Deckel“ die Selbstakzeptanz und somit die Heilung der Betroffenen.

Da wir langjährig ausgebildete und berufserfahrene Ärzt*innen, Krankenpfleger/ Krankenschwestern, Sozialarbeiter*innen,  Psycholog*innen sind, sowie oftmals auch als Angehörige Erfahrungen mitbringen und immer wieder Patienten sind, können wir mit Feingefühl zur Behandlung und zur Entstigmatisierung Betroffener beitragen, wenn wir selbst entstigmatisiert werden. Wir engagieren uns mutig, wegweisend, bedacht und überzeugt vom trialogischen Ansatz.

Was für ein Verlust für den Trialog an Erkenntnis und Erfahrung wäre, wenn wir durch Scham anhaltend blockiert statt motiviert sind! 

Dr. med. Gabriele Schöck, Referat Selbst Betroffene Profis

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