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Kurzgeschichte von Lebeneinander

"Lebeneinander" ist ein Pseudonym und Wortspiel. Gleichzeitig der Titel meines gleichnamigen Buches, in dem die Protagonisten nebeneinander herleben und einer daran verzweifelt. Eine gewisse Hypomanie hatte ich bereits in jungen Jahren (ohne es zu wissen). Die depressive Phase kam erst einige Zeit nach Ende des Berufslebens hinzu (leitender Angestellter). Ich habe beides zur Zeit im Griff; bin medikamentös gut eingestellt. Sehe das aber nur als Ergänzung. Kraft ziehe ich aus meiner "Schreiberei" mit Erfolgserlebnissen und aus sportlicher Betätigung (Ballspiele und Joggen).

Die Kurzzeit-Therapie

Wie Köhler auf die Idee gekommen war, freiwillig in diese Klinik zu gehen, war ihm nicht bewusst. Vielleicht war es eine Art Fernsteuerung gewesen, um zu erkennen, wie gesund er eigentlich war.

Er erinnerte sich an einen Spruch seiner Mutter: ‚Du kannst dich drehen und wenden wie du willst, alles im Leben ist Schicksal!’ Damals hatte er sie ausgelacht.

Das Zimmer musste er sich mit einem Mann teilen, der bestimmt zwanzig Jahre älter war. Zur Abneigung gegen ein Zwei-Bett-Zimmer mit einem fremden Menschen kam hinzu, dass der wortkarg war, so dass es nicht zu einem Gespräch kam.

Nachdem an den ersten beiden Tagen außer gemeinsamer Medikamenten-Einnahme unter Aufsicht und den vier Mahlzeiten nichts weiter angeboten wurde, stand die wöchentliche „Mittwochsrunde“ auf dem Terminplan. Ein Stuhlkreis mit zwölf Personen im Uhrzeigersinn beginnend, wie er morgens beim Frühstück von einer Frau aus dem Nebenzimmer aufgeklärt wurde. Die Leitung hatte die junge Ärztin Dr. Schweder.
Er setzte sich so hin, dass er als Letzter drankommen würde. Mit einigen Mitpatienten hatte er sich auf dem Gang oder während der Mahlzeiten unterhalten können, andere waren gar nicht in der Lage dazu gewesen oder gaben Antworten, die nicht zu seinen Fragen passten.

„So, als Letzter ist nun Herr Köhler dran, der heute das erste Mal dabei ist“, stellte Frau Doktor ihn mit einem schwachen Lächeln vor. „Wie geht es Ihnen? Und was halten Sie von unserer Therapiestunde? Tat sie Ihnen gut und macht es Mut, von den Erfolgen dieser Menschen gehört zu haben?“

Bevor er antwortete, blickte er erst mal in die Runde. Bei einigen konnte er ein gewisses Interesse erkennen.

„Sie sprechen von Erfolg? Ja, den kann ich feststellen! Seitdem ich hier bin, es sind ja erst drei Tage, geht es mir von Tag zu Tag besser! Und nachdem ich eben intensiv zugehört habe, fühle ich mich hervorragend und voller Energie, dass Sie mich festhalten sollten, damit ich nicht durch das vergitterte Fenster springe!“

Die Ärztin zeigte keine Regung, zwei oder drei lächelten, die anderen blickten apathisch vor sich hin. „Und von Ihrer Runde halte ich gar nichts! Einige sind schon ein Vierteljahr und länger hier. Niemand hat von einer Gesundung oder Hoffnung auf Entlassung gesprochen. Und Sie scheinen zufrieden zu sein, wenn jemand als Erfolg vermeldet, dass er anstatt fünfzehn Tabletten am Tag jetzt nur noch dreizehn schlucken muss! Einer strahlte und war glücklich, dass er nach vier Tagen endlich wieder Stuhlgang hatte! Das sind beachtliche Fortschritte und...“

„Sie können sich Ihren Zynismus ersparen!“ funkte Dr. Schweder dazwischen und blickte ihn zornig an. „Wir beenden sofort die Runde! Ich lass mir von Ihnen nicht meinen Kurs kaputtmachen! Um 19:00 Uhr erwarte ich Sie im Besprechungszimmer!“

Fünf Minuten nach sieben klopfte er an die Tür. Sie war allein und saß hinter einem der drei Schreibtische und blickte auf die Armbanduhr. „Pünktlich können Sie auch nicht sein! Sie haben hier doch Langeweile und keinerlei Verpflichtungen! Ist das nicht mal zu schaffen?!“

Köhler grinste nur. Sie verzog keine Miene. „Das lass ich mir bei unserer nächsten Runde nicht noch mal gefallen!“

„Brauchen Sie auch nicht, weil es ein nächstes Mal für mich nicht gibt!“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Wie ich das gesagt habe, dass ich nicht mehr daran teilnehme!“

„Das werden wir ja sehen!“

„Übrigens habe ich ja nur die Wahrheit gesagt! Was meinen Sie, wenn hier mal ein Fernsehteam vorbeikommen würde und diese mit Psychopharmaka vollgepumpten bedauernswerten Menschen filmt, wenn sie mit ihren deprimierten Gesichtern und hängenden Schultern hier ´rumschleichen?! Wann sollen die hier jemals gesund herauskommen?“

Sie lachte hysterisch. „Und das können ausgerechnet Sie beurteilen?! Ich habe vorhin ein Fax von Ihrem Arzt bekommen, es ist ein Auszug aus Ihrer Krankenakte.“

„Wieso das? Gilt die ärztliche Schweigepflicht nicht für Bekloppte?“

„Nicht von Arzt zu Arzt, wo Sie sich bei uns in Behandlung begeben haben! Er hat die Diagnose „Manisch-Depressiv“ gestellt. Unter Fachleuten nennt man das eine Bipolare Störung. Die Hauptursache sieht er eher in der Kindheit als in Ihrer zerrütteten Ehe.“

„Das ist mir bekannt!“

„Hier steht auch etwas von Selbstmordgedanken. – Haben Sie die noch?“

„Manchmal.“

„An welche Art haben Sie gedacht? An Tabletten?“

„Nein!“ Er lächelte. „Das wäre mir ein zu femininer Selbstmord!“

Jetzt lachte sie das erste Mal. „Selbst vor dem Tode noch eitel!“

„Ich dachte an drei Möglichkeiten: Hochhaus, Güterzug oder Wasser! Die letzte habe ich inzwischen ausgeschlossen, weil ich ein sehr guter Schwimmer bin!“

„Und die zwei anderen Arten, ziehen Sie die noch in Betracht?“

„Nein, es sind ja nur Gedanken; ich würde das nie ausführen!“

„Wieso sind Sie da so sicher?“

„Wegen meiner Angehörigen, meiner Freunde und Bekannten! “

„Das klingt gut und glaubwürdig und könnte zu einer schnelleren Entlassung führen!“

„Sie haben recht! Ich werde nach diesem Gespräch die Klinik verlassen!“

„Das geht nicht! Professor Dr. Dr. Waabe will sich morgen Vormittag ausgiebig mit Ihnen beschäftigen. Besonders, weil Sie ein sehr seltener Fall sind! Sie sind innerhalb von drei Tagen übergangslos von einer Depression in die manische Phase gekommen. Meistens geht es erst von einer Hypomanie in das Hoch einer Manie!“

„Das ist mir egal, wie Sie das bezeichnen! Ich stehe nicht zur Verfügung; ich bin doch kein Versuchskaninchen!“

„Das sind sie alle nicht! Wir wollen Ihnen helfen und sie vorsichtshalber in die „Röhre“ schieben, eine sogenannte CT Ihres Gehirns machen!“

„Mein Gehirn arbeitet besser als bei manchem Psychiater! Ich habe mich selbst eingeliefert, dann kann ich mich auch selbst entlassen!“

„Das können Sie nicht! Ich werde ...“

„Sie werden gar nichts ... Sie können mich hier nicht festhalten!“ Er stand auf. „Auf Wiedersehen! – Nein, lieber nicht! Besser ist: Guten Abend! Frau Dr. Schweder.“

„Nein, lassen Sie es ruhig dabei! Ich bin überzeugt, dass wir uns bald wiedersehen! Sie wissen doch, man trifft sich immer zweimal im Leben!

Und dann werden unsere Mittwochsrunden für Sie nicht so angenehm werden, dass verspreche ich Ihnen!“ Sie hatte jetzt ein fast diabolisches Lächeln. „Als Erfolgserlebnis werden Sie dann stolz berichten, dass Ihre tägliche Tablettenration von zehn auf zwanzig heraufgesetzt wurde!“

Köhler öffnete die Tür und antwortete: „Vielen Dank! Schlagartig bin ich vollkommen gesund! Ich hole jetzt meine Sachen!“

Er eilte in sein Zimmer und warf Kleidungsstücke und Waschzeug wahllos in die Tasche, bevor man ihn daran hindern könnte. Er hatte Glück. Der Wachmann, bei dem man sich zum Rauchen oder zu einem Spaziergang auf dem Gelände abmelden musste, war in ein Gespräch mit einer Schwester vertieft, so dass er ungesehen vorbeischleichen konnte.

Aber bereits bei den ersten Schritten in die „Freiheit“ kamen ihm Bedenken, ob das die richtige Reaktion gewesen war. Wenn Dr. Schweder nun recht hätte? Den Triumph eines Wiedersehens wollte er ihr nicht gönnen!

Als sein Heimweg ihn über die Brücke des Kanals führte, stellte er die Tasche am Anfang des aus roten Ziegelsteinen bestehenden Geländers ab, schwang sich hinauf und ging vorsichtig bis zum Ende. Dort setzte er sich, starrte auf das bewegungslose dunkle Wasser und dachte, gut, dass ich nicht schwimmen kann! Er war sich nicht sicher, wie lange das Glücksgefühl und die Energie anhalten würden, bis er wieder in Verzweiflung fiele. Ihm glaubten ja auch nur Wenige. Einige sprachen sogar von Schauspielerei! Wer konnte verstehen, was in einem Gehirn ablief, wenn ein fehlender Botenstoff ein Ungleichgewicht verursachte? Wenn ihm ein Bein fehlte, könnten es alle sehen!

Trotzdem musste er aber wieder an seine nächsten Angehörigen denken. Für ihn wäre es schnell vorbei. Aber für einige könnten Schmerz und Selbstvorwürfe bis zu ihrem Lebensende andauern!

Er balancierte zurück zur Tasche und wollte gerade hinunter steigen, da kam ein Mann mit einem Hund vorbei, packte ihn energisch am Arm und zog ihn auf den Bürgersteig. „Sind Sie todesmutig?!“ schrie er so laut, dass der Schäferhund ihn wohl als Bedrohung empfand, bellend an Köhler hochsprang und ihn fast umwarf. „Wollten Sie da reinfallen?“

„Nein!“, antwortete er ohne Überlegung, und war froh, dass der Hund nicht gebissen und von ihm abgelassen hatte. „Als Kinder haben wir hier oft herumgeturnt. Im Sommer sind sogar einige zum Schwimmen hinunter gesprungen. Ich kam hier zufällig vorbei und wollte mal sehen, ob ich das als Erwachsener auch noch wage.“

Der Mann schüttelte lachend den Kopf, streichelte seinen Hund und antwortete: „Was für eine verrückte Idee! Nicht wahr, mein lieber Hasso?“

 

Im Wartezimmer

Ich setzte mich ihm gegenüber. Das war der einzig mögliche Platz. Die anderen Stühle waren zu zwei Türmchen gestapelt.

Es war kalt. Ich behielt die Jacke an.

„Gestatten Sie, dass ich das Fenster schließe?“ fragte ich, stand auf und schloss es, ohne die Antwort abzuwarten.

Auf „Guten Morgen!“ hatte mein Gegenüber nur mit einem Nicken reagiert.

Kahlköpfig wie ich, etwa gleichaltrig, die gleiche FFP-2 -Maske tragend, wirkten wir wie Brüder.

Jetzt reagierte er. „Der Abstand zwischen uns ist fast doppelt so groß wie vorgeschrieben.

Das sollte genügen, um Sie nicht mit Covid-19 zu infizieren, und Sie mich nicht!“

„Warum sagen Sie nicht 'Corona', wie alle Nichtfachleute?“

„Meine erste Freundin hieß so. Die Erinnerung an Sie ist viel zu schön, um sie mit diesem

unheimlichen Virusnamen zu zerstören!“

Ich schmunzelte und sagte: „Der Arzt nimmt sich für Jeden viel Zeit. Die erhaltenen Termine werden bis zu einer halben Stunde überschritten!“

„Deshalb heißt es ja auch Wartezimmer!“ antwortete er lakonisch.

Nach einer Pause, in der wir einander etwas verlegen anlächelten, sagte er: „Sie sind also schon länger in Behandlung. Hilft die Therapie nicht? Wirken die Tabletten nicht?“

„Ich habe Sie abgesetzt! Es wirkten nur die gravierenden Nebenwirkungen, wie sie auch in der Packungsbeilage angegeben sind.“

„Irgendwelche Nebenwirkungen haben ja alle Medikamente. - Was ist für Sie gravierend?“

„Verdauungsbeschwerden, Hautausschlag und Scheidentrockenheit!“

Er lachte. „Sie sind ein Witzbold! Sie meinen Mundtrockenheit!“

„Nein, Sie haben schon richtig gehört: Ich bin eine Transfrau! - Heutzutage darf man ja offen darüber sprechen, ohne diskriminiert oder - noch schlimmer - eingesperrt zu werden!“

„Ja, trotzdem bewundere ich Ihren Mut, sich bei einem „Wartezimmer-Fremden“ zu outen!“

„So fremd sind wir uns wahrscheinlich nicht, vielleicht sogar ähnlich. Sie sind doch auch 'bipolar'!“

„Ja, aber nicht bisexuell!“

„Darauf möchte ich nicht eingehen!“

Nach einer erneuten Pause meinte er: „Wenn Sie nur die Nebenwirkungen spüren, sollten Sie ein Placedo nehmen und sich einbilden, es sei das vom Psychiater verschriebene Medikament!“

Ich nickte. „Das mache ich schon seit drei Wochen. Jeden Morgen spüle ich einen Smartie mit einem Glas Wasser hinunter. Unser Arzt sagte, wichtig sei das Selbstwertgefühl, ein durchstrukturierter Tag und viel Bewegung. Wie viel die Kapseln bewirken, weiß man nicht genau. Ich habe deshalb mein Abonnement gekündigt und kaufe die Zeitungen an einem Kiosk, der ungefähr eine Stunde von meiner Wohnung entfernt ist. So habe ich ein Ziel und gleichzeitig Bewegung!“

„Weswegen sind Sie denn heute gekommen?“

„Um den Termin einzuhalten.“

Jetzt lachte er schallend. „Ich glaube, wir unterscheiden uns noch mehr: Sie sind ein Komiker!

Aber das ist nicht nur witzig, sondern auch originell!“

„Aber erzählen Sie das bitte nicht unserem Doktor!“

„Nein, ich halte mich an die ärztliche Schweigepflicht, ich bin...“

Die Sprechstundenhilfe öffnete die Tür und rief seinen Namen.

Er stand auf, gab mir trotz Verbot lächelnd die Hand und vollendete den Satz:

„Ich bin nämlich Orthopäde!“

© Lebeneinander

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